Anita Stöhr Webers „Farbstücke“, die wie zartes Pergamentpapier über ihren dünnen Halterungen hängen, sind bildhafte Abformungen, welche über ein indexikalisches Verfahren entstehen. Indem die Künstlerin auf eine vorab definierte Fläche Farbe streicht, um sie nach dem Austrocknen wieder von ihrem Untergrund zu lösen, wird die monochrome Farbhaut zu einem Informationsträger einer spezifischen Oberfläche. Die Schauseite der „Farbstücke“ bildet die Struktur des ehemaligen Trägermaterials ab, seine Textur wird ansichtig. Damit ist die Farbe nicht mehr nur Mittel der Malerei, sondern konkreter, physischer Abdruck einer dinglichen Wirklichkeit. Die Farbstücke zeigen sich dabei der klassischen Malerei noch soweit zugehörig, dass sie, frontal gesehen, als abstrakte Bilder wahrnehmbar sind. Ihre von der Wand distanzierte Hängung lässt die Farbstücke jedoch auch äußerst gegenständlich wirken, teilen sie doch den gleichen Raum wie ihre Betrachter. Auf diese Weise brechen die „Farbstücke“ in kulturell tradierte Sichtweisen und kunsthistorisch festgelegte Gattungen ein, ohne sich weder mit Malerei noch mit Skulptur gänzlich zu überwerfen. Eher synthetisieren sich malerische und skulpturale Konstanten, indem die Farbe eine reale Körperlichkeit annimmt. (aus: „Farbe als Verb“ von Claudia Seidel) Farbe_als_Verb_Claudia-Seidel Paint_as_a_verb_Claudia_Seidel
In gewisser Weise stellen die Farbstücke von Anita Stöhr Weber eine konsequente Fortsetzung der künstlerischen Fragestellung dar, wie sie von ihr in den auf dem Flur der chirurgischen Abteilung ausgestellten „Spitzen“ formuliert ist. Die Frage nach dem Verhältnis von Farbe und Bilduntergrund wird bei den Farbstücken hinfällig. Die Autonomie der Farbe ist bei ihnen quasi auf die Spitze getrieben. Viele Merkmale, die sonst ein Bild bestimmen, fehlen bei diesen künstlerischen Objekten. Sie haben weder einen Bildträger (Papier oder Leinwand) noch sind sie in einen Rahmen eingespannt. Sie bestehen lediglich aus Pigmenten und Bindemittel, die in noch flüssigem Zustand aus eine Holzpaltte aufgestrichen und dann mittels Acryl abgenommen wurden. Übrig bleiben zarte durchsichtigen Farbhäute, die über einen dünnen Drahtbügel mit etwas Abstand zur Wand gehängt werden und vor Verletzungen mit Plexiglashauben geschützt sind. Das Licht kann durch diese Plazierung von hinten durchscheinen und macht die Spuren des Malprozesses, die Holzmaserung des ursprünglichen Trägers und die unetrschiedlich dichten Pigmentansammlungen sichtbar. Je nach Lichteinfall verändert sich der Farbton der Objekte. Insgesamt vier ihrer Art wurden von der Künstlerin in einer farblichen Abfolge von Gelb bis Orange in die Zimmer gehängt, die ein Patient von der Anmeldung über die Untersuchung bis zum Chefarztzimmer durchläuft. Sie begleiten nicht nur die Patienten bei ihren oft langen Wegen durch die einzelnen Zimmer, sondern bilden auch eine optische Klammer für die zentralen öffentlichen Bereiche der Chirurgischen Abteilung. (Isabel Grüner, Kunstbeauftragte am Robert-Bosch-Krankenhaus, Stuttgart 2001)