Als gelernte Textildesignerin denkt Anita Stöhr Weber das Bild anders – sie denkt es vom Rand aus. Das steht der abendländischen Tradition der bildenden Kunst entgegen. Hier wird von der Mitte her gedacht. Das wichtigste Bildmotiv steht in der Mitte, während das Nebensächliche an den Rand gedrängt wird. Der Rand des Bildes umgibt das Zentralmotiv wie einen Nimbus. Der Rand ist aber gleichzeitig auch Begrenzung, er kadriert und lenkt den Blick in den Bildraum, und er weist dem ebenfalls auf die Bildmitte hin zentrierten Betrachter seinen Platz in der Spitze der Sehpyramide zu. Denn innerhalb der Zentralperspektive ist das Bild nur der markierte Schnitt an einer bestimmten Stelle durch diese imaginäre Pyramide. Anita Stöhr Webers Haltung zum Bild ist anders. Fast könnte man meinen, sie stände eher in der morgenländischen Tradition, die auf die realistische Darstellung von Figuren und auf Zentralperspektive verzichtet, wie in der so bedeutsamen Tradition der Webteppiche. Die Webtechnik bedingt, daß die (Bild‑)Fläche bei Teppichen nicht von der Mitte her gedacht wird sondern buchstäblich vom Rand her. Muster und Motive wachsen am Webstuhl sukzessive von unten nach oben, der Schuß markiert in jeder seiner Bewegungen jeweils immer die Web- und Bildkante, an der er seine Richtung zu ändert hat. Doch läuft das Motiv, das Muster oder der Rapport bei orientalischen Teppichen oft jenseits des Randes fort. Der Rand zentriert also nicht das Bild auf eine Mitte sondern markiert nur den willkürlichen und zufälligen Ausschnitt aus einem größeren Ganzen, Gottes Schöpfung könnte man sagen. Anita Stöhr Webers Interesse für das Phänomen des Bildrands rührt natürlich aus der Kenntnis der Weberei. Der Rand des Bildes bleibt nicht unbefragt. Was macht der Rand, wie wirkt der Rand, was ist der Rand? Solchen Fragen stellen nicht nur die „Plots“ sondern auch Arbeiten, die schlicht mit „DIN A 4“ oder „DIN A 3“ als Arbeitstitel bezeichnet werden. Sie bestehen aus zwei Teilen: Einem gerahmten Blatt in der dem Titel entsprechenden Größe und einem zweiten auf der Wand daneben befindlichen farbigem Motiv, das den Entstehungsprozeß des gerahmten Bildes kennzeichnet. Das etwa in hellem Orange ausgeführte Kreismotiv, von dem das gerahmte Blatt nur den inneren Ausschnitt liefert, wird komplementiert durch den beim Malen über die Blattränder hinausreichenden Pinselschwung, der an der Wand zurückgeblieben ist. Der freihändig gezogene Kreis – der übrigens einem beliebten Zen-Motiv ähnelt – ist in zwei Bildformate zerteilt. Der Bildrand, zum einen als Außengrenze, zum anderen als Binnengrenze markiert, ist das eigentliche Motiv der Arbeit, obwohl er de facto substantiell gar nicht existiert, und nur im Gegenüber der beiden Formen in Erscheinung tritt. Der_Stoff_aus_von_Ronald_Berg